1.08 „Volkssturm“ auf das Rathaus

Der nationalsozialistischen „National-Zeitung“ war es erst am 23. März 1933 eine kleine Meldung wert. In großen  Beiträgen wurde  „Der Nationalfeiertag in Recklinghausen“ mit „15.000 uniformierten Teilnehmern“ gefeiert. Dass „aus dem Volk heraus ein Sturm auf das Rathaus einsetzte, um mißliebige, national und sozial unzuverlässige Beamte - die für den nationalen Aufbau Deutschlands einfach untragbar sind - zur Rechenschaft zu ziehen“ war im Kleingedruckten fast verborgen; namentlich erwähnt wurde hier nur ein Wohlfahrtspfleger. Das passte auch zur offiziellen Stellungnahme der NSDAP-Kreisleitung, die die RZ bereits am 20. März 1933 zitierte.  Danach hätten Partei und SA mit den „Zusammenstößen“ nichts zu tun, sondern zusammen mit SS-Leuten sogar „einen weiteren Sturm auf das Rathaus“ verhindert.

Tatsächlich hatte die NS-Hetzpropaganda gegen „alle schwarzen und roten Bonzen! Fort mit der verfluchten Vettern- und Bonzenwirtschaft!“  schon den Kommunalwahlkampf bestimmt. Zur NS-Selbstdarstellung als Partei der Arbeiter und Arbeitslosen gehörte der Angriff auf die „schwarz-rote Koalition“  auf Reichsebene als den Verantwortlichen für die „Millionenarbeitslosigkeit“. Verbunden wurde dies lokal mit einer hetzerischen Darstellung des Dezernenten Dünnebacke, des „höchstbesoldeten Magistratsmitglieds, eines Zentrumsobergenossen als „Wohlfahrtsdirektor in seinen wohlgepolsterten Klubsesseln mit einer gepflegten Sekretärin im Vorzimmer“, angesichts der „hungernden, frierenden und verelendeten erwerblosen Massen“ draußen vor der Tür.

Dass die NSDAP angesichts einer einzigartigen Propaganda- und  Machtdemonstration eine Woche nach der Reichstagswahl in Recklinghausen erstmals auch bei der Kommunalwahl am 12.3.1933 stärkste Fraktion im Rat der Stadt wurde, feierte sie als „ Sieg über den schwarz-roten Marxismus“ (NZ 14.3.1933).  Wie in anderen bisher nicht „gleichgeschalteten“ Städten erfolgte die Machtübernahme in einer Kombination von  Gewalt („nationaler Revolution“) von unten und administrativ-legalistischem Druck von oben:

Hinnerk Töhneböhms Uhr ist abgelaufen, NZ 15.03.1933

Hinnerk Töhneböhms Uhr ist Abgelaufen, NZ 15.03.1933Publizistisch nächstes Angriffsziel unter den Magistratsmitglieder war nach dem oben zitierten Wohlfahrts-Stadtrat Josef Dünnebacke (Zentrum) der Wirtschafts-Stadtrat Hinnerk Töneböhm (SPD), ein „roter Obergenosse“ und „Verführer des Proletariats“.

Wann wird Weiskirch beurlaubt? NZ 18.03.1933Wann wird Weiskirch beurlaubt? NZ 18.03.1933

„Wann wird Herr Weißkirch beurlaubt? Auch Wohlfahrtsempfänger wollen menschlich behandelt werden sein“ titelte die NZ am 18.3.1933. Aufgegriffen wird im Text ein Zusammenstoß des Leiters des Wohlfahrtsamtes mit „dem Leiter der Ortsgruppe Süd der NSDAP“ am 15. März. Im Amtszimmer war - ohne, dass Weiskirch ihn kannte - der neue gewählte NS-Stadtverordnete Hingst mit brennender Zigarre  und wohl dazu passender Herrschaftsattitüde „im Auftrage eines erwerbslosen Pg“  erschienen. Weiskirch hatte ihn wohl ebenso energisch zurecht gewiesen. Über den Ausgang berichtet die NZ: „Wenn er nun einmal mit der Hand eines verzweifelten Arbeiters in körperliche Berührung kam, dann ist das ganz allein auf das Schuldkonto seines unglaublich ungehörigen Benehmens zu setzen.“ Der NZ-Artikel kündigt Weiskirch offen an, dass „auch Ihrer Tätigkeit als Kommunalbeamter in Recklingh. ein baldiges Ende gesetzt wird.“

Bedauerliche Zusammenstöße, RVZ  20.03.1933Bedauerliche Zusammenstöße, RVZ  20.03.1933

Bereits einen Tag später kam es in den „Vormittagsstunden des Samstag zu Aufsehen erregenden Szenen.“ Eine „Menschenmenge“ besetzte Rathausplatz und Rathaus. Sie drang in das Wohlfahrtsamt ein und bedrängte und mißhandelte Stadtoberinspektor Heinrich Weiskirch  (DDP). Der Versuch, des von Weiskirchs Stellvertreter Bredenbrock telefonisch alarmierten Stadtrats Dünnebacke, in das Wohlfahrtsbüro vorzudringen, scheiterte. Während Beamte und Angestellte in die oberen Stockwerke oder nach draußen flohen, gelang Dünnebacke zwar der Rückzug in sein Amtszimmer. Ein Telefonkontakt zum Überfallkommando der Polizei kam nicht zustande. Dann drang auch hier eine Menschenmenge ein, die ihn zur Herausgabe eines Kassenschlüssels zu zwingen versuchte. Erst das Eintreffen eines einzelnen Polizeibeamten, dem er den Schlüssel zur Verwahrung gibt, bot ihm Gelegenheit das Zimmer und das Rathaus unter Drohungen („Heraus aus dem Rathause“) zu verlassen. Ansonsten schritt die Polizei nicht ein. Erst bei seiner Ankunft in seinem Privathaus, An der Paulusstr. 29 erhielt er einen Anruf aus dem Polizeipräsidium. Das „Angebot“,  in „Schutzhaft genommen“ zu werden, lehnte Dünnebacke ab. Heinrich Weißkirch war schon  zuvor aus dem Zimmer geprügelt worden und „auch auf der Freitreppe wurde W. weiter bedrängt und geschlagen“, bis er von der Polizei auf dem Vorplatz „vorübergehend in polizeiliche Schutzhaft genommen“  wurde, wie die Polizeipressestelle offiziell mitteilen ließ. Der misshandelte Heinrich Weiskirch wurde - so seine eigenen Angaben später - mit „Bänderzerreißungen an beiden Schultergelenken und Blutergüssen. Quetschungen der Kreuz- und Gesäßgegend und der linken Nierengegend“  in das Knappschaftskrankenhaus Bottrop eingeliefert, das er erst am 13. Mai verlassen konnte.

Die Versuche der NSDAP,  die Verantwortung für den Gewaltakt „aus dem Volke“ abzulehnen,  erscheint nicht nur angesichts der publizistischen Vorbereitung unglaubwürdig. Dünnebackes Zeitzeugenbericht erwähnt die Anwesenheit von uniformierten SA- und SS-Leuten und er hält den Süder OV-Vorsitzenden Hingst für einen der Urheber, der die Erwerbslosengruppen instrumentalisiert habe. Zudem „besuchten“ Teile der Menge am selben Tag das Verwaltungshaus an der Görresstraße und drang in das sozialdemokratische „Volkshaus“ ein, um die Hakenkreuzfahne zu hissen.

Tatsächlich wurden am selben Tag mit den Stadträten  Töneböhn und  Jörling zwei weitere Magistratsmitglieder vom Dienst suspendiert. Sie blieben ebenso wie Dünnebacke auch von der konstituierenden Sitzung des Stadtrates am 1. April 1933 ausgeschlossen.    Stattdessen wurde nun bürokratisch auf der Basis des neu geschaffenen „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 1.4.1933 ihre Absetzung betrieben. Offen formulierte der neue Stadtverordnetenvorsteher Franz Rottmann, zugleich in der frisch erfundenen Position eines  NSDAP-Kreisbeauftragter für die Kommunal-Politik in seinem Antrag an den Magistrat der Stadt vom 31. Juli 1933: „Die Pensionierung Dünnebackes muß im Interesse des Dienstes erfolgen.“ Diesem Zitat des § 2 der neuen Gesetzes hatte er nämlich eine Präzisierung gleich hinzugefügt:  „(Gleichschaltung)“.   Der unverhüllte Anspruch,  Magistratsposten zu besetzen, wurde durch die Einschätzung des Stadtrates Dünnebackes ergänzt: „Seiner bisherigen Tätigkeit  nach ist Herr Stadtrat Dünnebacke für eine Mitarbeit im nationalsozialistischen Sinne durchaus völlig ungeeignet.“ Im Falle von Heinrich Weiskirch drohte die NSDAP unverhüllt mit weiteren Empörungsaktionen zorniger Erwerbsloser, falls er im Amt verbliebe.

Der Schock des Rathaussturms „des Volkes“ zeigte seine unmittelbare Wirkung auch auf den eingeschüchterten Magistrat, der noch am gleichen Tag den Antrag auf die Pensionierung von Josef Dünnebacke und Heinrich Weiskirch mit einem eigenen Beschluss zur Entscheidung an den Regierungspräidenten weiterleitete. Als „Begründung“ verwies man der Einfachheit halber auf die beigelegten NSDAP-Anträge.

Dünnebacke und Weiskirch  wurden am 1.5.1934 durch den Reichsinnenminister in den Ruhestand versetzt; Töneböhn war bereits am 1.11.1933 ohne Ruhegehalt entlassen worden. Der ebenfalls am 19. März aus dem Amt entfernte Hochbaudirektor Fritz Witt wurde zwischenzeitlich wieder eingestellt und dann am 1.5.1935 entlassen. 

(Georg Möllers)

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