Die Entstehung des Recklinghäuser Wallrings und seine Namensgebung
Nach Mitte des 14. Jahrhunderts erhielt Recklinghausen eine neue, größere Stadtmauer mit erweitertem Areal sowie mit einem vorgelagerten Wall, Wassergraben und 16 Türmen, ergänzt durch Landwehren im freien Vorfeld der Stadt. Die Überwindung dieses typisch mittelalterlichen Stadtantlitzes mit seinem Burgencharakter und seinen Festungseigenschaften geschah in Mitteleuropa erst im Laufe des 19. Jahrhunderts. Frühe Indizien dafür waren die Nutzlosigkeit und der damit zusammenhängende Zerfall der einst wirkungsvollen Mauer-, Wall- und Wehranlagen um 1800. Diese hatten ihre Funktion als grenzziehendes, sicherheits- und ordnungsstiftendes Element mit dem Ende überkommener Stadtrechte und dem Untergang der alten geistlichen und weltlichen Fürstentümer weitestgehend eingebüßt.
In den modernen, zunehmend technisierten und verkehrsintensiven Staaten des beginnenden Industriezeitalters stellten die alten Anlagen nur mehr Hindernisse und Hemmschwellen, kaum mehr stabilisierende und strukturfördernde Elemente dar, die rechtlichen und verwaltungstechnischen Trennungen zwischen Stadt und Land verwischten zusehends. Im Zeitalter der frühen Industrialisierung und des rapiden Bevölkerungswachstums standen letztlich überall in Europa die alten Mauern den modernen Verkehrs- und Lebensbedürfnissen buchstäblich im Weg: Sie boten nicht mehr Schutz und Trutz, sondern waren Hemmnis und Hindernis, sie schirmten nicht mehr Handel und Wandel in einer Stadt, sondern bremsten und beengten diese.
Mitteleuropäischer Prototyp einer planmäßigen Stadterweiterung im 19. Jahrhundert war die habsburgische Kaiserstadt Wien, wo schon von 1858 bis 1874, nach einem international besetzten Architektenwettbewerb, die halbkreisförmigen und umfangreichen alten Basteien in das architektonische Gesamtkunstwerk der sog. Ringstraßen-Zone mit groß angelegtem, gerundetem Boulevard verwandelt worden waren. Aus einer Festungsstadt, die sich gegen die Osmanen zu wehren hatte, wurde so eine gründerzeitliche Donaumetropole.
Im westdeutschen Raum folgte im Jahre 1881 Köln, wo bis 1886 unter Stadtbaumeister Hermann-Joseph Stübben die sog. Ringe entstanden. Bemerkenswerterweise musste dafür die Stadt Köln, die im Range einer deutschen Bundesfestung die mittelalterlichen Bollwerke zu Beginn des 19. Jahrhunderts an den preußischen Militärfiskus abzutreten hatte, im Jahre 1880 die Stadtmauern erst für viel Geld zurückkaufen, um sie anschließend in freier Verfügungsgewalt niederreißen zu können. Auch Dortmund ist in diesem Zusammenhang zu nennen, nachdem in den Jahren 1860-1874 unter Regie des Stadtbaumeisters Ludwig König der Mauerring um den mittelalterlichen Stadtkern niedergelegt und entlang seines Verlaufes zunächst eine Promenade, später eine Wallstraße angelegt wurde.
Es galt das städtebauliche Prinzip: Keine Ringstraße ohne ihre Präfiguration in der Stadtummauerung. Um 1850 war in Recklinghausen von der in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts erstmals nachgewiesenen, 1296 geschleiften und 1365 erweitert wiederaufgebauten Stadtmauer nicht mehr viel übrig: Von den ehemals fünf Stadttoren und 16 Türmen standen nur noch der Stephansturm, der Wachturm und ein Rest der Stadtmauer an der Engelsburg, auf Höhe späteren Herzogswall. Um die Stadt Recklinghausen herum führte auf dem planierten Wall zunächst eine schmale Pappelallee, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer mit Ahorn und Linden bepflanzten Promenade ausgebaut wurde.
Doch ab 1885 gerieten die Dinge unumkehrbar in Bewegung: 1887-1889 entstand ein erster Baufluchtlinienplan für Recklinghausen, der auch Gebietsstreifen der Feldmark jenseits der alten Mauern berücksichtigte. Im Herbst 1896 schrieb die Stadt das Projekt einer planmäßigen Stadterweiterung im "Rheinisch-Westfälischen Anzeiger" und in der "Kölnischen Zeitung" aus. Kurz vor 1900 wurde das mittlerweile erprobte Prinzip der radialen Öffnung des Stadtraumes jenseits des alten Mauerverlaufs also auch in Recklinghausen rezipiert.
Nach Sichtung einer Fülle von Angeboten wurde im März 1898 der Essener Landvermesser und "Cultur-Ingenieur" Stötzel mit der Erstellung eines Bebauungsplans für einen Radius von einem Kilometer für das unmittelbare Umland des alten Stadtzentrum samt einem 20 Meter breiten, vollständig begrünten Straßenring beauftragt. Rechtsgrundlage aller folgenden Planungen und Arbeiten waren das preußische Enteignungsgesetz von 1874 und das preußische Fluchtliniengesetz von 1875. Dabei wurde im März 1898 hinsichtlich der Fluchtlinien arbeitsvertraglich festgehalten, dass "die Promenade ihrer Bedeutung gemäß als Ringstraße zu projectiren und zu behandeln ist": Dies ist die eigentliche Geburtsstunde des Wallrings. Weitere Arbeitsgrundlage war ein neues Straßen- und Hausnummern-Verzeichnis und ein Magistratsbeschluss vom November 1898, der die noch heute geltende Benennung der Wallring-Abschnitte festlegte.
Auch in Köln und Wien unterteilte man zwecks Namensfindung die kilometerlange Ringstraße in einzelne Abschnitte. Die Recklinghäuser Lösung führt in chronologischer Reihenfolge und entgegengesetzt zum Uhrzeiger diejenigen Herrschertitel und Formen der Landesherrschaft an, die im Laufe von 1100 Jahren in unterschiedlichster Weise Macht über Stadt und Vest Recklinghausen ausgeübt hatten: die karolingischen Grafen des 9. Jahrhunderts (Grafenwall), die Kölner Kurfürsten des 12.-18. Jahrhunderts (Kurfürstenwall), der Herzog von Arenberg (1802-1810, Herzogswall), die Könige von Preußen (1815-1918, Königswall), schließlich drei deutsche Kaiser aus dem Hause Hohenzollern (1871-1918, Kaiserwall). Das konkrete Vorbild war Köln, wo man die Bezeichnung der Ringe ebenfalls in historisch konzipierte Segmente teilte, die von den Germanen im Kölner Raum zu den Zeiten Julius Cäsars (Ubierring) und von der Abfolge der deutschen Kaiserdynastien berichten (Karolingerring, Sachsenring, Salierring, Hohenstaufenring, Habsburgerring, Hohenzollernring).
Zu Beginn des Jahres 1899 wurde bereits überall am Recklinghäuser Wallring gebaut, das Tempo, das dabei vorgelegt wird, war enorm. Ab Sommer 1899 vollzog sich eine Welle von Grundabtretungen, Auflassungen, Enteignungen von Anrainer-Grundstücken, durch die rasch ausreichender Baugrund zur Verfügung stand. Herzogswall und Kurfürstenwall bildeten dabei den ersten Arbeitsschwerpunkt, ab 1900 folgte der Kaiserwall, dessen Fertigstellung sich aber bis nach Einweihung des neuen Rathauses (1908) hinzog. Die Platzierung des Kreishauses (heute Willy-Brandt-Haus) und des historistischen Rathauses am neuen Ring-Boulevard folgte dabei eindeutig dem Vorbild Wiens, wo ebenfalls neue kommunale und staatliche Repräsentationsbauten die Nähe zur prachtvollen Ringstraße suchten.
Um 1910 war der Wallring endlich fertig und durchgehend mit regenfestem Pflaster ausgestattet: Er präsentiert sich teils in Blockrandbebauung, teils in aufgelockerter Einzelhausbebauung und ist besetzt mit mehrstöckigen Geschäftshäusern und mondänen Villen sowie mit repräsentativen öffentlichen Bauten (Landratsamt, Feuerwache, Sparkasse, Bankhaus, Rathaus). Des Weiteren war er abwechslungsreich bepflanzt mit Ulmen (Grafenwall, Königswall), Linden (Kurfürstenwall, Herzogswall), Ahorn ((Herzogswall) sowie Kastanien und Platanen (Kaiserwall). Damit schenkte sich Recklinghausen eine Großstadtarchitektur, die höchsten urbanen Standards der Wilhelminischen Epoche Genüge leistete. Um 1910 entstand eine Fülle von Bildmotiven für Postkartenansichten im Farbdruck; am schmucklosesten und am wenigsten beachtet blieb der Grafenwall, doch die schönsten Perspektiven bot der neue Recklinghäuser Wallring in den Augen der Zeitgenossen offenbar mit Blick auf den Herzogswall.
Festzuhalten bleibt, dass der Wallring nicht nur aus stadtästhetischer Motivation entstanden ist, von Anfang an gaben auch verkehrsinfrastrukturelle Gesichtspunkte den Ausschlag: Der stetig wachsende, ab ca. 1900 immer mehr motorisierte Fernverkehr über die preußische Provinzialstraße von Bochum über Riemke, Herne, Strünkede, Bruch, Recklinghausen, Sinsen und Haltern nach Münster quälte sich nun nicht mehr durch den engen Flaschenhals des Viehtores Richtung Markt und verließ am Lohtor die Altstadt in Richtung Norden; vielmehr umspült der Verkehr seitdem auf dem Wallring den Rundling der Altstadt wie auf einem ‚Bypass’ auf effektive und elegante Weise.
Der Wallring wurde bald zur Rollbahn für die sich in alle Richtungen entfaltende Stadterweiterung, er garantierte die Entfesselung, Öffnung und Dynamisierung des städtischen Siedlungskörpers. Die planmäßige Erweiterung Recklinghausens lag seit 1901 in den Händen von Hermann-Joseph Stübben, dem Geheimen Baurat und Kölner Stadtverordneten. Schon als Schöpfer der Kölner Ringe galt er als der seinerzeit bedeutendste mitteleuropäische Städteplaner. Dieser hatte bis 1901 nicht weniger als 31 Stadterweiterungen in Deutschland und im benachbarten Ausland geplant (darunter Dresden, Düsseldorf, Kassel, Danzig, Brügge, Flensburg, Luxembourg und andere Städte mehr. Recklinghausen (d.h. der Bebauungsplan für das West- und Nordviertel) gilt eigenen Angaben zufolge als eine der wichtigen Arbeiten. Sein Nachlass, der auch die Recklinghäuser Pläne beinhaltet, ruht im Historischen Archiv der Stadt Köln.
Seit Sommer 2009, nach endgültigem und feierlich begangenem Abschluss mehrjähriger aufwendiger Umgestaltungsarbeiten erstrahlt der Recklinghäuser Wallring in neuem Glanz und sucht damit wieder Anschluss an seine frühen Blütezeiten zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
Dr. Matthias Kordes (Stadtarchivar), Dietmar Schwetlick (Technischer Beigeordneter) und Georg Möllers (Beigeordneter) bei der Enthüllung der neuen Wallringbeschilderung.
Broschüre
Hier finden Sie die neue Broschüre über die Entstehung des Recklinghäuser Wallrings vorgestellt