Was verbirgt sich hinter der Adresse „Waltrop, Holthausen 29 a“? Und warum wurden diese Kinder in Recklinghausen begraben?
In Waltrop-Holthausen 29 a befand sich das zentrale westfälische Entbindungs- und Abtreibungslager für Ostarbeiterinnen. Insgesamt verzeichneten Lagerbücher 1.991 Frauen (zwei Drittel stammten aus der Ukraine und ein Drittel aus Polen). Die Bücher geben an, aus welchen westfälischen Städten die Schwangeren zugewiesen wurden.
Für die Städte des Kreises Recklinghausen wurden insgesamt 353 Eintragungen vorgenommen.
Im Lagerbuch sind neben insgesamt 19 verstorbenen Kindern aus Recklinghausen auch die sechs auf dem Waldfriedhof begrabenen Kinder verzeichnet. Sie waren wahrscheinlich von auf den Zechen oder in Betrieben arbeitenden polnischen oder ukrainischen Frauen geboren worden und aufgrund von Krankheiten oder anderer Ursachen („rassekundliche“ Untersuchungen) dort gestorben, während die Mütter wieder zum Arbeitseinsatz kamen. Warum ergab sich für die Nationalsozialisten die Notwendigkeit eines solchen Lagers? Warum musste die Vielzahl der bekannten Lagerarten noch durch ein „Entbindungslager“ erweitert werden?
Das Lager in Holthausen wurde wahrscheinlich auf Veranlassung des Landesarbeitsamtes Westfalen im Frühjahr 1943 unter Aufsicht des Arbeitsamtes Recklinghausen errichtet.
Am 20.4.1943 teilte das Arbeitsamt Recklinghausen in einem Rundschreiben an „alle Betriebe, die Ostarbeiter beschäftigten“, mit: „Betrifft: Unterbringung von schwangeren Ostarbeiterinnen und Polinnen in einem Barackenlager in Waltrop.
In Waltrop – unmittelbar in der Nähe des Bahnhofes – ist gemeinsam seitens des Arbeitsamtes mit der Arbeitsgemeinschaft für Gemüseerzeuger von Waltrop und Umgegend ein Barackenlager errichtet worden, das bis zu 500 Personen aufnehmen kann. In diesem Lager sollen schwangere Ostarbeiterinnen und Polinnen aufgenommen und entbunden werden: Sie sollen bis zu ihrer Niederkunft im Gemüsebau arbeiten und dort auch nach ihrer Entbindung bis zu einer gewissen Zeit weiterbeschäftigt werden. In dem Lager werden grundsätzlich nur gesunde schwangere Frauen aufgenommen. Das Lager ist keinesfalls als Krankenauffanglager anzusehen. Kranke überwiesene Frauen werden unverzüglich unter Berechnung der Unkosten den Betrieben wieder zugeführt, da diese Frauen lediglich in den bereits errichteten Krankenhausbaracken untergebracht werden, sofern eine längere stationäre Behandlung erforderlich ist. In Zweifelsfällen ist eine Untersuchung durch den Amtsarzt des Arbeitsamtes Recklinghausen vorgesehen.
Mit der Belegung des Lagers bzw. Inmarschsetzung der schwangeren Frauen kann sofort begonnen werden. Das Arbeitsamt Recklinghausen ist jedoch in jedem Einzelfalle zu benachrichtigen. Wegen der Zurückführung der entbundenen Frauen erfolgt weiter Anweisung.
In Waltrop besteht auch Beschäftigungsmöglichkeit für die Ehemänner dieser Frauen, falls sie von ihren Ehefrauen nicht getrennt werden sollen oder können.“
Der Aufenthalt schwangerer Frauen war verhältnismäßig kurz, sollten sie doch möglichst schnell wieder in den Arbeitsprozess kommen. Die Chemischen Werke Hüls schickten ihre schwangeren Ostarbeiterinnen „wohl vollständig nach Waltrop und erhielten „kinderlose“ Frauen zurück. Wie aus den Firmenakten hervorgeht, besaß man zwar ein Krankenrevier aber keine „Kinderbaracke“.
Es ist davon auszugehen, dass die Gestapoleitstelle Münster (Fremdarbeiterdezernat) und das SS-Amt für Rasse- und Siedlungswesen (RuS) in Düsseldorf die im nationalsozialistischen Sinn „rassepolitische“ Verantwortung für das Lager in Holthausen übernahmen und damit auch verantwortlich waren für Hinrichtungen, Folterungen und vor allem für die Bestimmung von „gut“- und „schlechtrassischen“ Kindern und das „Aussortieren“ der „schlechtrassischen“. Alle diese Maßnahmen unterlagen höchster Geheimhaltung.
Was sollte nach Meinung der nationalsozialistischen Rassenlehre mit den schwangeren Ausländerinnen und ihren Kindern geschehen? In einem Schreiben des Amtes für Volkswohlfahrt des Gaues Westfalen Nord an alle Kreise vom 1.11.1943 „Zur Behandlung schwangerer ausländischer Arbeiterinnen und der im Reich von ausländischen Arbeiterinnen geborenen Kinder“ hieß es unter Bezug auf einen Erlass Himmlers vom 27.7.1943, dass die NSV nur „gut-rassische“ Kinder betreue. Das hänge ab vom „Nachweis des deutschen Erzeugers“ und dem „positiven Ergebnis der rassischen Untersuchung“. Die „förderungswürdigen“ Kinder, so das Schreiben kämen in Heime der NSV oder in Familienpflegestellen.
In einem Rundschreiben des Reichsamtes für Volkswohlfahrt vom 20. Januar 1944 wurde ausgeführt:
„In allen Fällen, in denen eine negative Beurteilung durch den RuS-Führer erfolgt, wird gebeten, die Entlassung aus der Betreuung der NSV zu veranlassen und die Überweisung des Kindes in eine Kinderpflegestätte für ausländische Arbeiterinnen durchzuführen. Alle bereits in die Betreuung der NSV gekommenen Kinder von ausländischen Arbeiterinnen müssen nachträglich entsprechend den neuen Richtlinien behandelt werden.“
Das dürfte für viele Kinder mit Sicherheit wie ein Todesurteil gewesen sein. War bei den Nationalsozialisten der Schwangerschaftsabbruch für deutsche Frauen absolut verboten, so galt das für Ostarbeiterinnen und Polinnen nicht. Hier sah die Erlasslage im Januar 1944 Folgendes vor: „Von den Richtlinien für Schwangerschaftsunterbrechung und Unfruchtbarmachung aus gesundheitlichen Gründen“ (herausgegeben von der Reichsärztekammer, bearbeitet von Prof. Dr. Hans Stadler, Lehmann Verlag, München1936) wird bei Ostarbeiterinnen abweichend verfahren und auf Wunsch der Schwangeren die Schwangerschaft unterbrochen. Ein solcher Antrag muss an die Gutachterstelle für Schwangerschaftsunterbrechung der zuständigen Ärztekammer geleitet werden. Diese setzt sich mit dem Beauftragten des Reichskommissars für Festigung deutschen Brauchtums in Verbindung. Die Zustimmung dieser Dienststelle zu dem Antrag auf Unterbrechung entscheidet die Gutachterstelle und beauftragt einen Arzt mit der Durchführung. Als geeignete Einrichtungen zur Durchführung kommen auch die für Ostarbeiter eingerichteten Krankenbaracken, insbesondere diejenigen, in denen die Entbindungen von Ostarbeiterinnen stattfinden in Betracht“.
Die auf dem Waldfriedhof in Hochlarmark begrabenen Kinder von „Ostarbeiterinnen“ wurden Opfer der rassistischen Unrechtssystems des Nationalsozialismus. Die genauen Umstände ihres Todes werden wohl nicht mehr zu bestimmen sein.
(Jürgen Pohl)