Aktuelles Recklinghausen
Ein Beitrag des Stadtarchivars Dr. Matthias Kordes:
Heinrich II. und die Bischofskirche in Paderborn: Zur ältesten Erwähnung Recklinghausens in einer Kaiserurkunde von 1017
In der Handschriftensammlung des Landesarchivs Nordrhein-Westfalen, Abt. Westfalen, hat sich ein sog. Urkundenkopiar der Bischöfe von Paderborn aus der Mitte des 15. Jahrhunderts erhalten (Rescripta privilegiorum Paderburnensis ecclesie). In ihm wurden alle wichtigen Schriftstücke abschriftlich dokumentiert, darunter auch königlich-kaiserliche Diplome aus dem frühen Mittelalter, deren Originale längst verloren sind. Das in lateinischer Sprache verfasste Schriftstück, das in seiner ursprünglichen Form am 10. Juni 1017 ebenfalls in Paderborn ausgefertigt wurde, hat folgenden Rechtsinhalt:
Kaiser Heinrich II. schenkt auf Bitten seiner Gattin Kunigunde der bischöflichen Kirche zu Paderborn diverse, nicht namentlich benannte Höfe mit allem Zubehör (einschließlich 50 Höriger), gelegen in den Grafschaften des Herimannus bzw. des Otto bei neun benannten Orten (nördlich und südlich der Lippe, darunter auch Dülmen, Sythen, Haltern, Berghaltern, Lembeck, Erle, Elpe und Recklinghausen), unter zwar der Auflage, Mittel für Kleidung und Nahrung eines Domherren bereitzustellen und den Kaiser und seine Gemahlin in die dortige Gebetsgemeinschaft aufzunehmen.
Weil in Paderborn seit Karl dem Großen nicht nur eine Bischofskirche, sondern auch eine Kaiserpfalz existierte – 799 empfing Karl der Große Papst Leo III. ebendort –, zeigten die deutschen Könige und Kaiser des früheren Mittelalters Verbundenheit mit diesem strategisch wichtigen Bischofssitz am Hellweg. Nicht von ungefähr wurde Kunigunde, die in zahlreichen Urkunden Heinrichs II. als Fürsprecherin und Vermittlerin auftritt, im Juli 1002 in Paderborn zur Königin gesalbt und gekrönt. Heinrich II. (Regierungszeit 1002–1024, seit 1014 auch römisch-deutscher Kaiser) pflegte insbesondere mit dem Bischof Meinwerk von Paderborn ein persönliches Näheverhältnis, weil beide um 990 eine Ausbildung an der berühmten Domschule von Hildesheim erhalten hatten.
Die Schenkung der Höfe geschah 1017 also unter der Auflage, Mittel für den Unterhalt eines canonicus bereitzustellen und das Kaiserpaar – im Konsens mit Bischof Meinwerk, seinen Nachfolgern und den Mitkanonikern – in die immerwährende Gebetsgemeinschaft der Paderborner Domgeistlichen aufzunehmen. Die neuere Forschung streitet über die Frage, ob hier bereits ein sog. Königskanonikat vorliegt, d.h. eine Einrichtung, durch die dessen Inhaber besondere geistliche "Dienstleistungen" für das Herrscherpaar verrichtet, indem er regelmäßig für dessen Seelenheil betet.
Paderborn 1017 war jedenfalls kein Einzelfall: Magdeburg, Bamberg und Hildesheim sind ebenfalls zu nennen; aller Wahrscheinlichkeit nach trat Heinrich, ein überzeugter Förderer des Mönchtums, in seinen letzten Lebensjahren auch mit den Mönchen der benediktinischen Erzabtei Montecassino sowie mit der burgundischen Abtei Cluny in eine Gebetsverbrüderung ein. Die memoria, d.h. die individuelle Vorsorge für Seelenheil und Seelgedächtnis, galt schon zu Lebzeiten eines Herrschers als unverzichtbar und zog umfangreiche Stiftungen zugunsten von Reichsklöstern und Bischofskirchen nach sich.
Die Bischöfe von Paderborn waren auch wichtige Akteure im sog. ottonisch-salischen Reichskirchensystem – die Kaiser und Könige nahmen nämlich schon seit Otto dem Großen wachsenden Einfluss auf die Bistümer. Sie zogen die Bischöfe, von denen viele aus der sog. Hofkapelle des Königs stammten (so auch Meinwerk), mehr und mehr auch zu repräsentativen, politischen, administrativen, ja sogar zu militärischen Aufgaben heran. Manche Bistümer erhielten sogar gräfliche, also weltlich-gerichtliche Kompetenzen, zumal das Reich selbst noch keine eigenen Verwaltungsstrukturen entwickeln konnte.
Der Episkopat hatte demnach gleichermaßen dem Reich und der Gesamtkirche zu dienen: servitium regis nannte man diese besonderen kirchlichen Dienstleistungen. Höhepunkt dieser Entwicklung: Heinrich II., dessen persönliche Frömmigkeit seine Regierungsweise prägte, veranlasste 1007 die Gründung des Diözese Bamberg und stattete die neue Bischofskirche mit umfangreichen Rechten und reichen Schenkungen aus.
Typisch für die Zeit um 1000 war, dass politische, juristische oder wirtschaftliche Handlungsfelder noch keineswegs von der spirituell-liturgischen Sphäre getrennt waren. Die Könige des 10. und 11. Jahrhunderts, die im Zuge ihrer Inthronisation vom Mainzer Erzbischof eine quasi-priesterliche Salbung empfingen, hatten eine zutiefst religiöse Auffassung von ihrer gottgewollten Herrschaft. Bischofskirchen wurden so zu Schauplätzen eines sakralen Königtums, das sich in symbolischen Handlungen zeigte und keine Hauptstadt oder zentrale Residenz kannte, sondern sich im fortwährenden "Umritt" durch das Reich präsentierte. Die deutschen Herrscher sahen sich gleichermaßen als Diener und Haupt der Reichskirche, ja mehr noch: als vicarius Christi – als ranghöchste irdische Sachwalter des Gottessohnes. Prachtvolle Buchmalereien aus der Abtei Reichenau inszenieren zur Jahrtausendwende ikonenähnliche Darstellungen ottonischer Majestät, in denen der Herrscher von Christus selbst seine Krone empfängt.
Fragliche Höfe werden 1017 nicht präzise identifiziert. Fest steht jedenfalls, dass deren Erträge und Abgaben für den Lebensunterhalt eines Domherren ausreichen sollten. Wer die beiden Grafen Hermann und Otto waren, in deren Gebiet die Höfe lagen, bleibt ebenfalls im Dunkeln. Die unmittelbare Nachbarschaft der Güter zu bestimmten Dörfern und Siedlungen bildet, weil es ja keine Unterlagen im Sinne von Kartographie und Kataster gab, wenigstens ein behelfsmäßiges Identifizierungs- und Lokalisierungsmerkmal. Unter anderem geht es um ein Gehöft (lat.: mansus) in Ricoldinchuson, heißt: „im Umkreis / in unmittelbarer Nähe von Recklinghausen“, nicht um Recklinghausen selbst. Auch lassen sich keine Erkenntnisse gewinnen, die über die bloße Existenz Recklinghausens hinausgehen.
Heinrich II. war nicht Eigentümer Recklinghausens, wohl aber ebenjener Höfe diesseits und jenseits der Lippe. Zu vermuten ist, dass diese Königshöfe aus altsächsischem Erbbesitz der Billunger stammten: Wichmann der Ältere (+ 944) war mit einer Schwester Königin Mathildes (Ehefrau des deutschen Königs Heinrich I., zugleich Urgroßmutter Heinrichs II.) verheiratet, die wiederum aus der Familie des Sachsenherzogs Widukind stammte. Indes lagen die grundherrschaftlichen und kirchlichen Rechte über Siedlung und Pfarrei Recklinghausen bei den Erzbischöfen von Köln: Vermutlich war ja unter Hildebold, dem ersten der Kölner Erzbischöfe, schon um 800 in Recklinghausen eine Ur- und Missionspfarrei für die Emscher-Lippe Region eingerichtet worden. Die althergebrachten Vorrechte der Kölner Oberhirten wurden also von der Übertragung von 1017 nicht berührt. Aus diesem Grunde war es ja weder der Kaiser, noch der Bischof von Paderborn, sondern der Kölner Erzbischof Heinrich II. von Müllenark, der 1236 dazu befugt war, einer Siedlung namens Recklinghausen Stadtrechte zu verleihen.
Abbildung: Paderborner Kopie der Kaiserurkunde von 1017 in einer Handschrift des 15. Jahrhunderts. Der Eintrag gibt auch das Kaisermonogramm des verlorenen Originals wieder: ein graphisches Symbol, bestehend aus einem mystisch-zeichenhaften Gerüst von Großbuchstaben. Deren chiffrierte Konstruktion weist in komplexen liturgisch-theologischen Deutungsansätzen auf Christus hin (Landesarchiv NRW, Abt. Westfalen, Msc. I Nr. 118, S. 87).
Hier geht es zur Kurzversion: Erste namentliche Erwähnung Recklinghausens: Urkunde von 1017 vorgestellt