3.20 Befreiung am Ostertag 1945

Recklinghausen erlebte die letzten Kriegstage in der Karwoche: Am Gründonnerstag wurde mit dem „Volkssturm“ aus Jugendlichen ab 15 Jahren und älteren Männern das „letzte Aufgebot“ zusammengestellt. Gauleiter Dr. Meyer forderte ihn auf Plakaten am Karfreitag zum Kampf auf  und Frauen und Kinder zum Verlassen der Stadt. Karsamstag schlugen Artilleriegeschosse auf dem Marktplatz und im Landratsamt sein, während die letzte deutsche Artilleriestellung am Lohtor abgezogen wurde. Der Mittag des Ostersonntag, 1. April 1945, brachte mit dem Einmarsch der Amerikanern die Befreiung. Pfarrer Theodor Pasch hielt die Ereignisse einige Woche später in der Pfarrchronik von St. Paul fest. Der Paulusstollen befand sich unter dem Gelände des heutigen Hittorf-Gymnasiums. [Anm. Georg Möllers]:   

Der Paulusstollen!

Wer ihn erlebt hat, wird den Eindruck niemals vergessen. So oft die Sirene in dem heulenden Auf und Nieder Gefahr meldete, viele  Male Tag und Nacht, eilten die Anwohner des Paulusviertelstadtteils in den Stollen, der sich Ecke Paulus- und Kemnastraße befand.

14 Meter tief musste man hinuntersteigen in das Erdverlies, ein 2,5 m breiter, unterirdischer Gang, der sich bis unter den Schulplatz der Oberschule für Jungen an der Kemnastraße hinzog. Noch überkommt einen das Grauen, wenn man sich rückdenkend daran erinnert, wie tausende Menschen sich hier zu retten suchten. An den beiden feuchten Wandseiten des Stollens, auf mitgebrachten Schemeln, Hockern und Bündeln, saßen Menschen, stumm und gelassen, fast möchte man sagen apathisch, junge Menschen, Kinder, Mütter mit Säuglingen im Arm, mit kleinen Kindern im Schoß, alte gebrechliche Leute, die sich mühsam die 86 Stufen herabgeschleppt hatten, das Bündel mit ihren notwendigen Habseligkeiten an sich pressend. Bei der nur spärlichen Beleuchtung war es ein geradezu erschütterndes Bild. Die Ordner hatten, um den zu schnellen Verbrauch von Sauerstoff zu vermeiden, strenges Stillschweigen geboten.

In diese unheimliche Stille hinein surrte, solange Strom vorhanden war, das eintönige Getöse des Entlüftungsapparates. Ohne Strom herrschte völlige Dunkelheit und Ruhe. In der letzten Zeit gab es Menschen, die tagelang den Stollen nicht mehr verließen. Die Luft wurde immer unerträglicher. Mit der Feuchtigkeit vermischten sich Kleiderausdünstungen, [Gerüche] des Essens etc.. Es wirkte immer befreiend, wenn der Ordner die Entwarnung meldete. Wir waren glücklich, den freien Himmel wieder über uns zu sehen – und noch glücklicher, wenn wir feststellen durften, dass unser Kirchspiel verschont geblieben war.[...]

Da die meisten Schulkinder unserer Pfarrgemeinde evakuiert waren [in der sogenannten „Kinderlandverschickung“- Anm. G. Möllers], blieben zur Vorbereitung auf die Erste Hl. Kommunion nur noch 23 Kinder.[...] Trotz andauernder Luftgefahr kamen alle pünktlich zur Morgenmesse und zum Kommunionunterricht. Jedesmal mussten wir mit den Kindern zum Stollen flüchten, in dem wir oft drei Stunden aushalten mussten. Die Kinder wichen nicht von der Seite des Pfarrers oder der Schwester. Oft wurden hier im Flüsterton die Gespräche des Religionsunterrichts fortgesetzt [Schulischer Religionsunterricht war seit 1939 verboten – Anm. G. Möllers]. Hier erlebten wir am 23. März 1945, am Schmerzensfest der Gottesmutter, den letzten, schweren Luftangriff, der das Nordviertel unserer Stadt völlig zerstörte, darunter das Waisenhaus und das Säuglingsheim.[...]

 

Der Ostertag

brachte für uns das Ende des Krieges. In der Karwoche, 25. März – 1. April 1945, stand Recklinghausen unter den letzten Schrecken desselben. Die feindlichen Truppen standen auf deutschem Boden, obschon der Drahtfunk noch „Siegreiches Vorgehen unserer Truppen“ log. Viele zum „Volkssturm“ eingezogene Männer, meist ältere Leute, suchten heimlich auf einem Wege wieder nach Hause zu kommen. Unsere Soldaten mussten mit Aufbringung ihrer letzten Kräfte kämpfen, obschon sie ihre hoffnungslose Lage klar erkannten. Der Einsatz der Tiefflieger wurde intensiver. Der Artilleriebeschuß kam erschreckend näher. Schon in der vorhergehenden Woche zogen ganze Viehherden über die Hohenzollernstraße. Sie waren den Bauern am Niederrhein fortgenommen, wurden zusammengetrieben und landeinwärts geführt. Wohin? – Dann folgten bald Menschen, die vom Niederrhein geflüchtet oder zwangsweise evakuiert waren, Einzelpersonen, zu Fuß oder auf Fahrrädern, die wiederum mit Bündeln beladen waren, ganze Familien und Familiengemeinschaften, die zu „Trecks“ zusammengeschlossen war. Ein solcher Treck bot ein geradezu erschütterndes Bild. An der Spitze kamen Jugendliche, meistens Mädchen, weil die Jungen fast alle eingezogen waren, Schulkinder, Männer und Frauen, oft noch mit Handkarren mit einigen Habseligkeiten nach sich ziehend. Dann kam eine Pferdekarre, Planwagen, gezogen von einem müden, abgemagerten Pferd. Auf dem Wagen hockten alte Leute, Mütter mit Säuglingen, Kranke und kleine Kinder, eingehüllt in Decken. Diesem Pferdekarren hing ein Wagen an mit Stroh für das Nachtlager, Kleinvieh, Futter etc ... . Wer diese Trecks gesehen, kann den Eindruck nicht vergessen. Die übermüdeten, verstaubten, abgehärmten Menschen auf der Landstraße, die Haus und Hof verlassen mussten. Wenn man nach dem Ziel fragte, bekam man die trostlose Antwort: „Wir wissen es nicht“, „nur heraus aus der Not.“ Oft lagerten sie auf dem Bordstein der Straße und waren froh, wenn man ihnen etwas Kaffee brachte.

Der Artilleriebeschuß kam näher. Alarm folgte auf Alarm. Die Motoren der in Mengen die Luft durchschneidenden Tiefflieger gaben ein fortdauerndes Getöse. So kam der Karsamstag mit der Osterliturgie, die im Paulusstift [Das Haus der Vorsehungsschwestern mit dem Kindergarten war auf dem Gelände der heutigen Familienbildungsstätte – Anm. G. Möllers] gefeiert werden sollte. Trotz höchster Lebensgefahr hatten sich noch etwa 100 Menschen in der Kapelle eingefunden. Die feindliche Front stand schon in Gelsenkirchen-Buer. Die Einschläge des Artilleriebeschusses hallten erschreckend nahe. Aber der Ernst der Stunde und das Bewusstsein, jeden Augenblick des Todes gewärtig zu sein, drängte die Menschen in die Nähe des Altars. Im engen Flur des Paulusstifts wurde auf einer Kehrschaufel zwischen Ziegelsteinen ein kleines Osterfeuer entzündet und an dem gesegneten Feuer die Osterkerze entfacht. Sollte sie unsere Sterbekerze sein? Das symbolische Licht, das uns geleitet ins ewige Licht? Während die Einschläge näher kamen und uns oft zusammenzucken ließen, umstanden wir bis hoch die Haustreppe im Treppenhaus hinauf das Osterfeuer: „Jesus dir jauchzt alles zu, Herr über Leben und Tod bist du!“, so hallte es durch das Haus. Noch war die Osterliturgie nicht beendet, da bat ein Hauptmann, der sich schnell von seiner Truppe entfernt hatte, ihm die heilige Kommunion zu reichen, er müsse sogleich wieder ins Gefecht. Ob das seine Wegzehrung gewesen ist? Gleich nach der Taufwasserweihe empfing eine 17jährige, junge Konvertitin die Taufe.

Nach der Samstagabendmesse flüchteten die Menschen heim. Auf den Straßen wurde es leer. Die feindliche Artillerie stand schon in Westerholt. Gar mancher, der sich noch in den Stollen oder den Bunker retten wollte, fand unterwegs den Tod. Auch zwei Anwohner unserer Paulusstraße [...] wurden tödlich getroffen. So kam die Osternacht. Von den deutschen Stellen, die unter dem verantwortungslosen Nazibefehl standen und von den Nationalsozialisten selbst, aufgehetzt und gezwungen von ihren Führern, wurden Post, Brücken und wichtige Verkehrsstellen gesprengt. Es waren Minen- und Zündwege selbst bis in die Zechen gelegt, ungeachtet der entsetzlichen Gefahr für die Wohnviertel, die aber, Gott sei dank, von mutigen Deutschen wieder unschädlich gemacht wurden.

 

An diesem Ostermorgen [Maschinengewehr-Stellung oder Weiße Fahne?]

erklang keine Osterglocke; keine Osterfeier, keine Messe wurde zelebriert. Herr Pfarrer Pasch hatte sich nicht gescheut, trotz größter Gefahr zum Paulusstift zu kommen, um den Schwestern die hl. Kommunion zu reichen in der Kapelle, die keine Fensterscheiben mehr hatte, deren Decken, Wände und Türen durch Granatsplitter beschädigt waren und deren Nebenraum durch einen Granattreffer fast völlig zerstört war.

Gegen 9 Uhr morgens standen deutsche abgekämpfte, bebärtete Krieger, die durch den Waschkeller eingedrungen waren, vor den Schwestern. Zu deren größten Schreck hatten sie im Paulusstift Maschinengewehre eingebaut zur Abwehr. Für das Paulusstift bedeutete das die Vernichtung. Nachdem die Schwestern den ausgehungerten Soldaten zu essen gegeben hatten, baten sie darum, die Maschinengewehre abzumontieren, was auch geschah. Die Soldaten hatten den Schwestern unzweideutig erklärt, dass es für sie das Beste sei, das Haus zu verlassen. Zwei Schwestern blieben dennoch im Hause; die anderen waren im Stollen. Schon hatte dieser die weiße Fahne gehisst; denn die Naziführer hatten sich bereits, nachdem sie wahnsinnigerweise die letzten Anordnungen zu Sprengungen gegeben, in ihren Autos auf und davon gemacht. Der Stollenwart fand das mutige Wort, das ihm vielleicht noch wenige Stunden früher den Tod durch Erschießen oder das Konzentrationslager gebracht hätte. Er forderte die im Stollen versammelte Menschenmenge auf, Ruhe zu bewahren, alle Abzeichen irgendeines Nazibekenntnisses abzulegen. Es durfte kein Wort erwähnt werden, das noch irgendeinen Sympathieausdruck für den Nationalsozialismus bedeute. Recklinghausen sei von diesen unseligen Unterdrückungsmethoden jetzt frei. Ihre Wortführer hätten feige die Flucht ergriffen und das Volk seinem Schicksal überlassen. Das schlug ein. – Ein Gemurmel der Verachtung ging durch den unterirdischen Gang.

Inzwischen hatte der Vorstoß der feindlichen Truppen, der Amerikaner, Recklinghausen erreicht. Die Stollenführung übergab geschlossen den Stollen zum Schutze der Insassen, die sich meist aus hilflosen Menschen, Frauen und Kindern zusammensetzten. Es wurde von den Amerikanern Befehl gegeben, zu warten, bis der Kommandant eintreffen würde. Nach 2 Stunden nahm der amerikanische Kommandant mit zwei Offizieren, geführt von Stollenwart und Dolmetschern, den Stollen ab. Die ängstlich, stumm fragenden Gesichter der Wartenden mögen dem Kommandanten das wohlwollende Zunicken abgerungen haben. Es war aber auch ein trauriges Hindurchschreiten durch den dunklen, unterirdischen Gang, zu dessen beiden Seiten die Menschen eng zusammen gekauert saßen, deren Gesichter bei dem hier und da trübe aufflackerndem Kerzenschein fast geisterhaft aussahen.

Dann kam der Befehl, dass die Insassen, unter größter Vorsicht zwar, ihre Wohnungen aufsuchen dürften, aber sich noch möglichst im Keller aufhalten sollten, da Recklinghausen noch unter Beschuss der sich verteidigenden deutschen Truppenverbände lag. Als wir zum Paulusstift flüchteten, lag vor der zerstörten Mariengrotte der alte Herr Gassner, vom Grantsplitter tödlich getroffen. Unsere Pfarrgeistlichen besorgten vom nahen Prosper-Hospital eine Bahre und trugen den Toten in die Leichenhalle.

Die folgenden Tage hielten uns noch im Haus. Im Westviertel der Stadt stand die amerikanische, und in Herne, das sich noch eine Woche lang verteidigte, die deutsche Artillerie. Über uns hinweg heulten noch ununterbrochen die Geschosse. Ausgeherlaubnis zur Besorgung von Lebensmittel war sehr beschränkt, nachher bis 6 Uhr abends. Die Wasserleitungen, Licht und Telefonleitungen waren zerstört. Sämtliche Wohnungen mussten sich einer Revision auf Waffen oder Zeichen von Parteizugehörigkeit unterziehen.

Nach einer Woche änderte sich vieles. Die Bevölkerung war glücklich, von Luftan-griffen bewahrt zu sein. Es heulte keine Sirene mehr, die zur Sicherung rief. Das Aufatmen war nicht ganz ungeteilt. Noch musste ein großer Teil unseres lieben Vaterlandes schweres Leid [erleben] und unsere Soldaten wurden gezwungen zu sinnlosen Weiterkämpfen. Noch log der Drahtfunk Siege der Städte, die längst unter Besatzung standen. [...]“

Zusätzlicher Literaturhinweis:
Werner Burghardt, Aus dem Chaos zu neuem demokratischen Anfang, in: ders. (Hg.), 750 Jahre Stadt Recklinghausen 1236-1986, Recklinghausen 1986, S. 271-294

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