Das mittelalterliche Siegelwesen ist ein eigenes Kunstgenre, das von Steinschneidern und Goldschmieden beherrscht wurde. Sie schnitten die aus Silber oder Messing bestehenden Siegelstempel (sog. Petschaften, Typare) und schufen Kunstwerke im Kleinformat.
Der Siegelabdruck erfolgte in erwärmtem Wachsklumpen, der mit Fichtenharz, Leinöl, Mehlteig, Sägemehl oder Kreide „gestreckt“ werden konnte. Im Siegel vereinigen sich textliche Elemente (d.h. die lateinische Siegelumschrift) mit Bildgebungen von Hoheitsträgern und juristischen Personen zu einem anschaulich-gegenständlichen Instrument der Beglaubigung und Authentifizierung von Rechtsinhalten. Das sigillum (ursprünglich der lateinische Begriff für: „Bildchen“, „Figürchen“) genoss volle Glaubwürdigkeit vor Gericht und höchste Beweiskraft in eigener und fremder Sache.
Ausgehend von der Sphäre der Kaiser, König, Bischöfe, Kirchen und Klöster dringt das Siegel im Hochmittelalter in alle Bereiche des Urkundenwesens vor. Eine Besiegelung wird als zwingend erforderlich angesehen und in den Urkundentexten ausdrücklich angekündigt. Auch das expandierende Städtewesen wird von dieser Entwicklung erfasst: Seit dem 12. Jahrhundert treten ja Kommunen als eigenständige politische Einheiten, als Rechtssubjekte und Körperschaften besonderen Rechts auf, die nach Ausdrucksformen öffentlicher Symbolik und bildhaften Hoheitszeichen streben.
Die Imagination der Stadt des Mittelalters ist in der Realität und in der Fiktion gleichermaßen geprägt von Türmen, Toren, Torburgen, Mauern, Zinnen, Dächern und anderen burgartigen bzw. hochragenden architektonischen Elementen, die zusammengenommen die Stadt zur unverwechselbaren Siedlungsform machen. Heilige als Helfer und Beschützer der Bürger und der Gemeinde spielten dabei eine zusätzliche, besondere Rolle. Viele frühe städtische Siegelbilder folgen diesen symbolhaften Vorstellungen. Den Anfang macht das Kölner Stadtsiegel, nach neuesten Forschungen vermutlich etwa 1140 entstanden, womöglich sogar schon um 1120. Dieses älteste europäische Stadtsiegel zeigt den thronenden Hl. Petrus - Dom-, Stadt- und Bürgerpatron gleichermaßen - mit seinen unverwechselbaren Attributen (zweifacher Himmelsschlüssel und Evangelienbuch) inmitten einer fiktiven Architektur.
Die frühen Siegel von Mainz, Bonn, Worms und Neuss folgen im 12. Jahrhundert dem "Kölner Modell“ und zeigen den jeweiligen Stadtheiligen stehend oder thronend in einer sakralen Architekturrahmung. Nicht von ungefähr thematisieren auch die zahlreicher werdenden Stadtsiegel des 13. Jahrhunderts in immer neuen Formen diese Ikonographie: Meist stehen Türme, Tore, abstrakt angedeutete Gebäude (Kirchen) und gerundete bzw. aufsteigende Mauerwerke im Mittelpunkt der Bildgebung, die nicht realitätsnahen Portraitcharakter hat, sondern eine sog. Stadtabbreviatur darstellt.
Erstmals wird das Recklinghäuser Stadtsiegel an einer Urkunde des Jahres 1253 zumindest bruchstückhaft überliefert; entstanden ist es wohl bald nach 1236, dem Jahr, in welchem der Kölner Erzbischof Heinrich I. von Molenark die Marktsiedlung Recklinghausen zur Stadt erhob. Das mittelalterliche Recklinghausen reiht sich damit in eine ‚Landschaft’ ähnlich gestalteter, mehr oder minder stark vom Kölner Siegel abgeleiteter westfälischer Städtesiegel ein, sie reicht von Xanten und Rees (nach 1228), Lippstadt (1231) und Soest (1236) über Beckum (1245) bis nach Paderborn (1245).
Der Schlüssel im Stadttor des Recklinghäuser Siegels dient aber nicht dem symbolischen „Zugang“ zur Stadt, sondern ist „Rest“ jener Ikonografie, die sich auf den Hl. Petrus bezieht: Der Apostelfürst ist ja der Schutzheilige von Stadt und Vest Recklinghausen und personifiziert die enge, auf das frühe 9. Jahrhundert zurückgehende Verbindung Recklinghausens zur Kölner Kirche. Das Kreuz im Scheitelpunkt des Stadtsiegels ist Teil der lateinischen Umschrift, nicht Bestandteil des Siegelbildes bzw. des dort an zentraler Stelle platzierten Kirchturmes. Das Kreuzzeichen bildet damit das graphische Symbol für die Bitte um Gottes Beistand bei Abschluss bzw. Beglaubigung städtischer Rechtsgeschäfte.
+ SIGILLVM. CIVIVM DE RICLENCHVSIN
Siegel der Bürger Recklinghausens
Abdruck in Bienenwachs,
Durchmesser: 7 cm
Am 18. Juni 1906 wurde bei einer Magistratssitzung unter Vorsitz des Ersten Bürgermeisters Peter Heuser beschlossen, beim Preußischen Heroldsamt offiziell ein neues Wappen mit einer Farbwahl zu beantragen, die man sich in einer – heraldisch zulässigen – Kombination von Grün und Gold, d.h. einer Farbe und eines (Edel-) Metalls wünschte. Auf Anfrage erklärte sich im September 1906 der Berliner Maler, Grafiker und Kunstsachverständige Professor Dr. Emil Doepler (1855–1922) bereit, für ein Honorar von 200,- Mark an der Gestaltung des neuen Stadtwappens mitzuwirken. Ziel war es, bis zur Fertigstellung und Einweihung des Rathaus-Neubaus am Erlbruch der Öffentlichkeit auch ein neues Stadtwappen vorzustellen, das Recklinghausen im gerade begonnenen 20. Jahrhundert mit einem zeitgemäßen Repräsentationsbild versehen sollte.
Im Januar 1907 reichte Professor Doepler, der 1897 auch Essens Stadtwappen entworfen hatte, drei farbige Entwürfe ein, welche die schematische Stadtarchitektur des mittelalterlichen Siegels thematisierten – der Magistrat lehnte jedoch alle drei Konzepte wegen fehlender Nähe zum mittelalterlichen Siegelvorbild ab. Ferner wurde der Kölner Domkapitular und Theologe Alexander Schnütgen (1843–1918), einer der bedeutendsten deutschen Sammler mittelalterlicher Kunst, um Rat und Mitarbeit gebeten , ebenso Professor Adolf Matthias Hildebrandt (1844–1918), Preußens führender Heraldiker und Herausgeber der Fachzeitschrift „Deutscher Herold“.
Hildebrandts Entwurf wurde schließlich durch Magistratsbeschluss vom 4. März bzw. 14. Mai 1907 zur Grundlage des Antrags auf Verleihung eines neuen Stadtwappens gemacht. Dieser Antrag wurde im Juli 1907 auf den staatlich-behördlichen Dienstweg gegeben, das heißt Folgendes: Der Vorgang wurde an den Regierungspräsidenten in Münster gerichtet, der, versehen auch mit einer Empfehlung des Provinzialarchivs Münster zur Farbgebung des Wappens, das Gesuch an das Preußische Innenministerium weiterleitete (weil die Stadt Recklinghausen zur damaligen Zeit bereits kreisfrei war, musste der Landrat des Kreises Recklinghausen nicht eingeschaltet werden).
Das Innenministerium übergab dann die Angelegenheit dem Preußischen Heroldsamt in Berlin, das ab 1855 als neue Kron- und Hofbehörde für das königliche Siegel- und Wappenwesen sowie für Adelsberechtigungen und Standeserhöhungen zuständig war, am Rande aber auch für kommunale Wappenfragen verantwortlich zeichnete. Dort wurde im Dezember 1907 der Vorschlag gemacht, das neue Wappen zusätzlich mit einer „dreitürmigen sandsteinfarbenen Mauerkrone“ zu „bedecken“. Seit 1893 setzte sich diese Sonderbehörde vielfach für diese Ergänzung ein und wies im März 1908 als Bedingung für die endgültige Genehmigung ein helles Grün für den Wappenschild an.
Der überarbeitete Entwurf wurde in der Magistratssitzung vom 4. Mai 1908 für gut befunden und zwecks Vorlage bei Kaiser Wilhelm II., hier wohlgemerkt in seiner Eigenschaft als König von Preußen, wiederum nach Berlin zurückgeschickt. Diese Vorlage erhielt schließlich von Wilhelm II. am 3. Juni 1908 mit eigenhändiger Signatur die Genehmigung, denn die Verleihung von Stadtwappen galt den preußischen Monarchen als oberste Wappenherren ihres Königreiches von alters her als persönliches Vorrecht. Am selben Tag kam das neue Recklinghäuser Stadtwappen offiziell in Geltung; damit war für Recklinghausen das Verfahren vergleichsweise schnell abgeschlossen, während es andernorts in Westfalen, wo sich mitunter das Heroldsamt mit einzelnen Kommunen nicht einig werden konnte, mehrere Jahre bis zur Genehmigung dauern konnte. Als hilfreich für ein zügiges und reibungsloses Verfahren erwies sich im Übrigen der Rückgriff auf ein mittelalterliches, mithin historisch gewachsenes Siegelbild, das als unangreifbares Vorbild für ein – neu zu gestaltendes – Stadtwappen galt. Einen feierlichen Wappenbrief gab es 1908 für die Stadt Recklinghausen aber nicht; ein solches Instrument blieb traditionellen Adelsverleihungen vorbehalten.
Die Ikonographie des Recklinghäuser Wappens führt nämlich tatsächlich auf direktem Wege zurück ins 13. Jahrhundert, in die Zeit der kurfürstlich-erzbischöflichen Stadtwerdung und Siegelaneignung. Das Bild zeigt in bemerkenswerter geschichtlicher Kontinuität eine komplex aufgebaute Stadtabbreviatur und – selten in der modernen Kommunalheraldik – sog. Beiwerk zum Wappenschild, hier: die sog. corona muralis, d.h. die dreitürmige Zinnenmauerkrone, die als eine Modeerscheinung vor dem Ersten Weltkrieg anzusprechen ist: Auch die aufstrebenden Ruhrgebietsstädte Herne (1900), Hattingen (1911), Buer (1913), Sterkrade (1913) und auch Osterfeld (1923) schmückten ihre neuen Wappen mit einer solchen Mauerkrone.
Dieser in Gold oder Silber gehaltene Schmuck, der in den spätbarocken Wappen der Reichsstädte Nürnberg, Augsburg und Frankfurt am Main schon im 18. Jahrhundert nachgewiesen ist, verbreitete sich in Mitteleuropa vor allem durch die napoleonische Kommunalheraldik, die seit 1804 besonderen kaiserlichen Regelungen unterlag, die Jahrzehnte später noch eine gewisse Wirkung zeigten. Die Mauerkrone gehört zum sog. Oberwappen und wurde auch vom Preußischen Heroldsamt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in seiner Anwendung gezielt gefördert. Große deutsche Städte schmückten sich gerne mit einer fünftürmigen corona, kleinere Städte hingegen begnügten sich mit einer dreiteiligen Mauerkrone: Hier wird eine konkrete Rangordnung von Städten sichtbar, die ebenfalls aus der napoleonischen Kommunalheraldik stammt; diese sprach nämlich ab 1804 von „bonnes villes“ erster, zweiter und dritter Ordnung (darunter auch Köln, Bremen, Hamburg und Lübeck), deren Wappen ganz neu gestaltet und in französischem Stil, u.a. mit drei goldenen Bienen (abeilles d'or) und meist gewölbten Mauerkronen (couronnes murales), ausgeschmückt wurden. Ihre Mauerkronen hatten je nach Größe und Bedeutung der Stadt entweder sieben oder fünf Zinnen (auch Douai, Recklinghausens Partnerstadt in Nordfrankreich, führt in guter französischer Tradition eine gewölbte Mauerkrone im Wappenschild).
Zurück nach Deutschland. Ab Mitte der 1920er-Jahre, als in den Ballungsgebieten – natürlich auch im Ruhrgebiet – durch kommunale Gebietsreformen neue Städte und Gemeinden gebildet wurden und erstmals auch Landkreise und Ämter (d.h. ländliche Gemeindeverbünde) offiziell und ‚individuell‘ wappenfähig wurden, geriet diese Gepflogenheit jedoch in die Kritik. Seit 1929 galt dem Geheimen Staatsarchiv des Freistaates Preußen in Berlin-Dahlem, das nach Auflösung des Heroldsamtes im März 1920 dessen Akten übernahm und auch als obergutachterliche Instanz in kommunalen Wappenfragen auftrat, die Mauerkrone als Uniformierung und „Verunzierung“, die man nicht länger befürworten werde. Das hatte auch Auswirkungen auf das Ruhrgebiet; die Stadtwappen Bottrops, Hertens, Dattelns und Waltrops, allesamt nach 1929 entworfen bzw. genehmigt und verliehen, treten entsprechend ohne Mauerkrone auf.
Die nationalsozialistische Heraldik, die möglichst alle kirchlichen bzw. ausländischen Elemente und Ornamente (z.B. Kreuze, Heilige, Kränze, Bänder, Kronen usw.) aus dem deutschen Wappenwesen verdrängen wollte, sagte diesen ‚fremden’ Einflüssen erst recht den Kampf an. Aber auch in den 1950er und -60er Jahren distanzierten sich die novellierten heraldischen Richtlinien für Städtewappen in NRW, deren Prüfung, Anwendung und Einhaltung den regional zuständigen Staatsarchiven oblag, von solchen für veraltetet erachteten Schmuckelementen, so dass heute nur noch wenige Kommunen dieses Beiwerk im Wappen führen: Neben den Wappen der Berliner Stadtbezirke sind zu nennen: Ahlen, Baden-Baden, Bergneustadt, Cuxhaven, Düren, Fulda, Groß-Gerau, Gummersbach, Hilden, Hückeswagen, Hochheim/Main, Oberhausen, Potsdam, Solingen, Wittlich und eben Recklinghausen, wo sich die Mauerkrone ebenfalls sehr ausgeprägt erhalten hat.
Dr. Matthias Kordes
Literatur:
Kalm, Harald von: Das Preußische Heroldsamt (1855–1920). Adelsbehörde und Adelsrecht in der preußischen Verfassungsentwicklung, Berlin 1994.
Neubecker, Ottfried: Heraldik. Wappen: Ihr Ursprung, Sinn und Wert. München 2002.
Oswald, Gerd: Lexikon der Heraldik. Von Apfelkraut bis Zwillingsbalken. Regenstauf, 3. unveränderte Aufl., 2011.
Roth, August: Die Städtewappen der Provinz Westfalen. Wattenscheid 1924.
Abbildung: Halbrundschild auf grünem Grund, darin in Gold: Ansteigende Ringmauer, vorn in der Mitte mit offenem rundbogigem und bedachtem Portal, darin ein stehender Schlüssel nach (heraldisch) rechts gewendet. Über der Ringmauer: Stadtabbreviatur mit befenstertem spitzbedachtem, in einem Kreuz endenden Mittelturm, flankiert von zwei befensterten, haubenbedachten Türmen. Auf dem Schild: okkerfarbene Krone aus zweistufiger Zinnenmauer und drei befensterten, gleich hohen Türmen, in der Mitte mit geschlossenem rundbogigem Tor in Gold.
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